Manuelle Volksmedizin
Unser modernes Medizin- und Gesundheitssystem ist nicht wesentlich älter als
hundertfünfzig Jahre. Zuvor war die Bevölkerung größtenteils auf sich selbst gestellt wenn
es darum ging, Beschwerden und Gebrechen zu kurieren. Die Arbeitsfähigkeit war
überlebenswichtig, Hilfe mußte also schnell, einfach und effektiv erfolgen. Irgendwo war
dann immer ein “Bauerndoktor”, “Knochenbrecher”, “Sehnensetzer”, “Sympathieheiler”
oder “Kräuterweiblein” mit einem Rezept, einem Griff oder einem Rat aufzufinden. Meist
handelte es sich dabei um einfache Bauern, Sennern, Schäfern oder auch Hebammen, die
schlichtweg ein Händchen hatten für Vieh und Mensch. Über Jahrhunderte hinweg wurde
ein solches Wissen innerhalb der Familien von Generation zu Generation weitergegeben
und fortentwickelt, wodurch sich ein reicher Erfahrungsschatz anhäufte. Mit dem
Aufkommen einer flächendeckenden ärztlichen Versorgung auch in den entlegenderen
Gebieten und aufgrund gesetzlicher Bestimmungen verloren die nachfolgenden
Generationen allmählich das Interesse an einer Unterrichtung in diesen Heilkünsten und
man überließ das Feld den Fachleuten an Akademien und Universitäten.
Sanfte Chiropraktik nach Marienhoff
Der ostfriesische Landwirt und Laienheiler Hermann Marienhoff entwickelte in der Zeit um
1950 aus seinen hiesigen volksmedizinischen Heiltraditionen heraus eine später nach ihm
benannte “Sanfte Chiropraktik”. Im Gegensatz zu der eigentlichen, größtenteils
amerikanisch geprägten Chiropraktik wird hier ohne die das typische “Knack”-Geräusch
verursachenden Impulstechnik (Thrust) gearbeitet, d.h. die Gelenke werden nie über ihre
eigenen aktuellen Bewegungsausmaße und Grenzen hinausgezwungen. Das Prinzip besteht
darin, einen Gelenkspartner manuell zu fixieren und den anderen passiv zu bewegen und
zwar so, dass das Gelenk erst geöffnet, über die Bewegung eingerichtet und dann wieder
geschlossen wird.
Marienhoff war ein intuitiver und “fühliger” Praktiker, der seine Behandlungsweise nie
analysiert oder unterrichtet hatte. Es lag an seinen interessierten “Patienten” wie z.B. dem
Heilpraktiker Berthold Chales - de Beaulieu, diese Methodik zu erfahren, abzuschauen und
nachzuempfinden - und somit dafür zu sorgen, dass sie uns erhalten blieb. In diesem
Zusammenhang heißt es im Vorwort der Publikation Chales - de Beaulieus “Wunder
Wirbelsäule” (RiWei-Verlag Regensburg 2005): “Außerdem verfügt er über eine
Chiropraktik, eine einzigartige Methode, die ohne jede Gewalt die Bewegungselemente
wieder in Harmonie und Schmerzfreiheit zu versetzten vermag. Diese Methode ist
weitgehend mental von einem verstorbenen Kollegen, Hemann Marienhoff, übergeben und
gleichzeitig durch mentale Schulung ergänzt worden.”
Kein beherzter Heilkundiger erlernt eine Methode um sie schlicht zu reproduzieren und
kopieren. Immer fließt sein eigenes Blut mit ein. So hat de Beaulieu sicherlich die
Marienhoff’sche Arbeit in seinem Sinne modifiziert. Auch sein Schüler Gerald Jentsch,
dessen Schüler wiederum ich zu sein das Vergnügen hatte, ließ eigene Erkenntnisse und
Erfahrungen mit einfließen. Und auch ich habe das Erlernte erweitert mit für mich stimmig
erscheinenden Ergänzungen. So bleibt Tradition neu und lebendig, ganz im Sinne des
Ausspruches des Komponisten Gustav Mahler: “Tradition ist nicht die Anbetung kalter
Asche, sondern das Weiterreichen des Feuers.”
Skribben - traditionelle alpenländische Gelenkbehandlung
Der Allgäuer Naturarzt Klaus Karsch durchwanderte um 1980 zwei Jahre lang die gesamte
Alpenregion und suchte die verschiedensten Menschen auf, die ihm noch etwas von ihrer
“altvorderen” Heilkunst zeigen konnten. Später weitete er seine Studienreisen auf das
gesamte deutschsprachige Gebiet aus. All diese Erfahrungen, Unterweisungen und
Lektionen trug er in seinem Konzept des Skribbens zusammen.
Skribben ist eine traditionelle alpenländische Manualtherapie zur Behandlung von
Schmerzen und Bewegungseinschränkungen an Gelenken und Wirbelsäule. Es sieht die
Hauptursache von Gelenkschmerzen in Verkürzungen und Verhärtungen der das Gelenk
umgebenden Strukturen wie Sehnenansätze und Kapsel-Band-Apparat. Dadurch wird das
gesamte Gelenk komprimiert, was erhöhten Verschleiß und Funktionseinschränkungen
nach sich ziehen kann. Außerdem lagern sich in diesen relativ schlecht durchbluteten
Geweben gerne Schlackenstoffe ab, die zu einer Übersäuerung führen und die freien
Nervenendigungen der Schmerzrezeptoren reizen.
Die Vorgehensweise besteht nun im Wesentlichen in einer Fixierung des gelenksnahen
Sehnenansatzes mit einem Finger und dem rhythmischen Bewegen des Gelenkes mit der
anderen Hand, so dass die fixierte Struktur unter dem Finger zu einer Dehnung gezwungen
wird. So lösen sich Kontrakturen und Verklebungen im Gewebe, es wird ausgepresst,
vermehrt durchblutet und entschlackt. Die Gelenksflächen können wieder in ein optimales
Verhältnis zu einander kommen und über die sich in den Sehnen befindlichen
Druckrezeptoren (Golgi-Punkte) erfolgt eine neuroreflektorische Entspannung der
entsprechenden Muskulatur. Das Gelenk kann wieder “aufatmen”.
Die Bezeichnung “Skribben” ist ein Kunstwort, das lautmalerisch diese Arbeit an den
Sehnen ausdrücken soll: es macht “skrip-skrip-skrib”.
Wirbelsäulentherapie nach der Dorn-Methode
Als süddeutsches Pendant zu Marienhoff kann der Allgäuer Bauer und Sägewerksbesitzer
Dieter Dorn (1938 - 2012) betrachtet werden. Er erfuhr als Patient eines benachbarten
Bauern am eigenen Leibe die heilsame Vorgehensweise dieses Laienpraktikers, die Dorn
später autodidaktisch reflektierte und weiter ausbaute. Anders als sein Kollege Marienhoff
begann Dorn, diese Methode auch an interessierte Laien und medizinischen Fachleuten
weiterzugeben. Tatsächlich ist die nun als “Dorn-Methode” oder “sanfte
Wirbelsäulentherapie nach Dorn” sehr bekannt gewordene Behandlungsform auch von
professionellen Therapeuten, Heilpraktikern und Physiotherapeuten dankbar aufgegriffen
und weitergeführt worden. Der Pragmatismus einer für jeden einfach praktikablen,
evidenzbasierten Volksmedizin war Dorn jedoch stets ein Anliegen.
Typisch für die Dorn-Methode ist das Zentrieren von Gelenken (z.B. als
Beinlängenausgleich) sowie das aktive Mitarbeiten des Klienten, der über sanfte
Pendelbewegungen der Extremitäten körpereigene Hebelmechanismen in Kraft setzt, die die
Griffe des Behandlers unterstützen. Vor allem das Einrichten einzelner Wirbel kann so sanft
und zielgerichtet vollzogen werden. Angestrebt wird eine geordnete Wirbelsäule (bzw.
Gesamtstatik) als Grundlage eines ausgewogenen Bewegungsapparates, Nervensystem
und Wohlbefindens.