© Prakash Frank Sanzenbacher

Manuelle Volksmedizin

Unser modernes Medizin- und Gesundheitssystem ist nicht wesentlich älter als hundertfünfzig Jahre. Zuvor war die Bevölkerung größtenteils auf sich selbst gestellt wenn es darum ging, Beschwerden und Gebrechen zu kurieren. Die Arbeitsfähigkeit war überlebenswichtig, Hilfe mußte also schnell, einfach und effektiv erfolgen. Irgendwo war dann immer ein “Bauerndoktor”, “Knochenbrecher”, “Sehnensetzer”, “Sympathieheiler” oder “Kräuterweiblein” mit einem Rezept, einem Griff oder einem Rat aufzufinden. Meist handelte es sich dabei um einfache Bauern, Sennern, Schäfern oder auch Hebammen, die schlichtweg ein Händchen hatten für Vieh und Mensch. Über Jahrhunderte hinweg wurde ein solches Wissen innerhalb der Familien von Generation zu Generation weitergegeben und fortentwickelt, wodurch sich ein reicher Erfahrungsschatz anhäufte. Mit dem Aufkommen einer flächendeckenden ärztlichen Versorgung auch in den entlegenderen Gebieten und aufgrund gesetzlicher Bestimmungen verloren die nachfolgenden Generationen allmählich das Interesse an einer Unterrichtung in diesen Heilkünsten und man überließ das Feld den Fachleuten an Akademien und Universitäten. Sanfte Chiropraktik nach Marienhoff Der ostfriesische Landwirt und Laienheiler Hermann Marienhoff entwickelte in der Zeit um 1950 aus seinen hiesigen volksmedizinischen Heiltraditionen heraus eine später nach ihm benannte “Sanfte Chiropraktik”. Im Gegensatz zu der eigentlichen, größtenteils amerikanisch geprägten Chiropraktik wird hier ohne die das typische “Knack”-Geräusch verursachenden Impulstechnik (Thrust) gearbeitet, d.h. die Gelenke werden nie über ihre eigenen aktuellen Bewegungsausmaße und Grenzen hinausgezwungen. Das Prinzip besteht darin, einen Gelenkspartner manuell zu fixieren und den anderen passiv zu bewegen und zwar so, dass das Gelenk erst geöffnet, über die Bewegung eingerichtet und dann wieder geschlossen wird. Marienhoff war ein intuitiver und “fühliger” Praktiker, der seine Behandlungsweise nie analysiert oder unterrichtet hatte. Es lag an seinen interessierten “Patienten” wie z.B. dem Heilpraktiker Berthold Chales - de Beaulieu, diese Methodik zu erfahren, abzuschauen und nachzuempfinden - und somit dafür zu sorgen, dass sie uns erhalten blieb. In diesem Zusammenhang heißt es im Vorwort der Publikation Chales - de Beaulieus “Wunder Wirbelsäule” (RiWei-Verlag Regensburg 2005): “Außerdem verfügt er über eine Chiropraktik, eine einzigartige Methode, die ohne jede Gewalt die Bewegungselemente wieder in Harmonie und Schmerzfreiheit zu versetzten vermag. Diese Methode ist weitgehend mental von einem verstorbenen Kollegen, Hemann Marienhoff, übergeben und gleichzeitig durch mentale Schulung ergänzt worden.” Kein beherzter Heilkundiger erlernt eine Methode um sie schlicht zu reproduzieren und kopieren. Immer fließt sein eigenes Blut mit ein. So hat de Beaulieu sicherlich die Marienhoff’sche Arbeit in seinem Sinne modifiziert. Auch sein Schüler Gerald Jentsch, dessen Schüler wiederum ich zu sein das Vergnügen hatte, ließ eigene Erkenntnisse und Erfahrungen mit einfließen. Und auch ich habe das Erlernte erweitert mit für mich stimmig erscheinenden Ergänzungen. So bleibt Tradition neu und lebendig, ganz im Sinne des Ausspruches des Komponisten Gustav Mahler: “Tradition ist nicht die Anbetung kalter Asche, sondern das Weiterreichen des Feuers.”

Skribben - traditionelle alpenländische Gelenkbehandlung

Der Allgäuer Naturarzt Klaus Karsch durchwanderte um 1980 zwei Jahre lang die gesamte Alpenregion und suchte die verschiedensten Menschen auf, die ihm noch etwas von ihrer “altvorderen” Heilkunst zeigen konnten. Später weitete er seine Studienreisen auf das gesamte deutschsprachige Gebiet aus. All diese Erfahrungen, Unterweisungen und Lektionen trug er in seinem Konzept des Skribbens zusammen. Skribben ist eine traditionelle alpenländische Manualtherapie zur Behandlung von Schmerzen und Bewegungseinschränkungen an Gelenken und Wirbelsäule. Es sieht die Hauptursache von Gelenkschmerzen in Verkürzungen und Verhärtungen der das Gelenk umgebenden Strukturen wie Sehnenansätze und Kapsel-Band-Apparat. Dadurch wird das gesamte Gelenk komprimiert, was erhöhten Verschleiß und Funktionseinschränkungen nach sich ziehen kann. Außerdem lagern sich in diesen relativ schlecht durchbluteten Geweben gerne Schlackenstoffe ab, die zu einer Übersäuerung führen und die freien Nervenendigungen der Schmerzrezeptoren reizen. Die Vorgehensweise besteht nun im Wesentlichen in einer Fixierung des gelenksnahen Sehnenansatzes mit einem Finger und dem rhythmischen Bewegen des Gelenkes mit der anderen Hand, so dass die fixierte Struktur unter dem Finger zu einer Dehnung gezwungen wird. So lösen sich Kontrakturen und Verklebungen im Gewebe, es wird ausgepresst, vermehrt durchblutet und entschlackt. Die Gelenksflächen können wieder in ein optimales Verhältnis zu einander kommen und über die sich in den Sehnen befindlichen Druckrezeptoren (Golgi-Punkte) erfolgt eine neuroreflektorische Entspannung der entsprechenden Muskulatur. Das Gelenk kann wieder “aufatmen”. Die Bezeichnung “Skribben” ist ein Kunstwort, das lautmalerisch diese Arbeit an den Sehnen ausdrücken soll: es macht “skrip-skrip-skrib”.

Wirbelsäulentherapie nach der Dorn-Methode

Als süddeutsches Pendant zu Marienhoff kann der Allgäuer Bauer und Sägewerksbesitzer Dieter Dorn (1938 - 2012) betrachtet werden. Er erfuhr als Patient eines benachbarten Bauern am eigenen Leibe die heilsame Vorgehensweise dieses Laienpraktikers, die Dorn später autodidaktisch reflektierte und weiter ausbaute. Anders als sein Kollege Marienhoff begann Dorn, diese Methode auch an interessierte Laien und medizinischen Fachleuten weiterzugeben. Tatsächlich ist die nun als “Dorn-Methode” oder “sanfte Wirbelsäulentherapie nach Dorn” sehr bekannt gewordene Behandlungsform auch von professionellen Therapeuten, Heilpraktikern und Physiotherapeuten dankbar aufgegriffen und weitergeführt worden. Der Pragmatismus einer für jeden einfach praktikablen, evidenzbasierten Volksmedizin war Dorn jedoch stets ein Anliegen. Typisch für die Dorn-Methode ist das Zentrieren von Gelenken (z.B. als Beinlängenausgleich) sowie das aktive Mitarbeiten des Klienten, der über sanfte Pendelbewegungen der Extremitäten körpereigene Hebelmechanismen in Kraft setzt, die die Griffe des Behandlers unterstützen. Vor allem das Einrichten einzelner Wirbel kann so sanft und zielgerichtet vollzogen werden. Angestrebt wird eine geordnete Wirbelsäule (bzw. Gesamtstatik) als Grundlage eines ausgewogenen Bewegungsapparates, Nervensystem und Wohlbefindens.